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FAQ: Europarecht
Europarecht meint laut Definition das Recht der Europäischen Union (EU-Recht). Es umfasste bis zum Vertrag von Lissabon auch das Recht der Europäischen Gemeinschaften (EG-Recht). Einen geschichtlichen Abriss stellen wir Ihnen in diesem Abschnitt zur Verfügung. Im weiteren Sinne gehören auch die Rechtsgrundlagen zum Europarecht, die Organisationen wie z. B. den Europarat, die Europäische Menschenrechtsorganisation und die OSZE.
Das Europarecht dient einem großen Ziel: der Verknüpfung und Verzahnung aller Mitgliedsstaaten auf wichtigen politischen Ebenen und in der Wirtschaft. Letzteres soll durch die Schaffung eines Europäischen Binnenmarktes gelingen. Was das ist und was es mit den Grundfreiheiten auf sich hat, erklären wir hier. Lesen Sie dazu auch unseren Ratgeber zur EU-Freizügigkeit.
Nein. Das Europarecht im engeren Sinne setzt sich einerseits aus den verschiedenen Verträgen zusammen (Römische Verträge, Vertrag von Maastricht und Lissabon). Andererseits gehören aber auch die Rechtsakte der Organe der Europäischen Union dazu, die wir hier näher erläutern.
Wie alles begann – ein geschichtlicher Abriss zum Europarecht
1946 war Europa traumatisiert von den Schrecken des 2. Weltkriegs. Am 19.09.1946 stand der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill in Zürich vor einem Rednerpult und sprach über seine Vision:
„In weiten Gebieten starren ungeheure Massen zitternder menschlicher Wesen […] verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen. Und doch gibt es ein Mittel, das […] die ganze Szene verändern und in wenigen Jahren ganz Europa so frei und glücklich machen könnte, wie es die Schweiz heute ist. Welches ist dieses Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“
[Quelle: Deutschlandfunk – „Große Reden: Winston Churchill“]
Die Vereinigten Staaten von Europa gibt es zwar nicht, wohl aber die Europäische Union (EU) und das Europarecht (Abkürzung: EuR). Doch bis dahin war es ein langer Weg. Zunächst gründeten Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, die Niederlande und Luxemburg die Wirtschaftsgemeinschaft EWG, indem sie 1957 die Römischen Verträge unterzeichneten. Sie wollten mit ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit einen neuen Krieg verhindern.
Wandel im Europarecht: Vertrag von Maastricht und Vertrag von Lissabon
Weil das recht gut funktionierte, beschlossen die Mitgliedsstaaten, auch in anderen politischen Bereichen zusammenzuarbeiten – mit dem langfristigen Ziel, die Vereinigten Staaten von Europa zu errichten. Den ersten Grundstein hierfür legten sie 1992 mit dem Vertrag von Maastricht:
- Durch diesen Vertrag wurde die EU gegründet – quasi als Dach der europarechtlichen Konstruktion.
- Dieses Dach wurde von drei Säulen getragen: der EG (Wirtschaft, ehemals EWG), der Außenpolitik (GASP) und der Innenpolitik (JI, PJZS).
- Weiterhin sah das Europarecht in Form des Maastrichter Vertrags eine Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro als gemeinsame Währung vor.
Durch den Vertrag von Lissabon (2009) wandelten sich die Struktur der EU und das Europarecht noch einmal grundlegend: Die drei Säulen verschmolzen mit dem Dach zu einem Gesamtgebilde – die Europäische Union wurde zu einer eigenständigen juristischen Person. Sie besitzt nunmehr Rechtspersönlichkeit. Sie kann damit eigenständig Verträge abschließen und auch sonst völkerrechtlich selbstständig agieren.
Das aktuelle (primäre) Europarecht ist das in der Form des Vertrags von Lissabon. Hierdurch wurde der EU-Vertrag reformiert. Aus dem bisherigen EG-Vertrag wurde der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Primäres und sekundäres Europarecht – Rechtsquellen des Europäischen Rechts
Das EU-Recht ist sehr umfassend. Es besteht nicht nur aus dem derzeit geltenden Vertrag von Lissabon, sondern noch aus vielen weiteren Rechtsquellen.
Die Verträge bzw. ihre Änderungen bilden das Primärrecht – zusammen mit ungeschriebenen Rechtssätzen. Diese Verträge können jedoch nur allgemeine Grundsätze aufstellen, sodass es zu deren Umsetzung weiterer Rechtsakte bedarf: dem Sekundärrecht.
Zum sekundären Europarecht gehören etwa Richtlinien, Verordnungen und Beschlüsse der EU bzw. ihrer Organe.
Verordnungen sind laut Art. 288 AEUV verbindlich. Sie gelten in jedem EU-Mitgliedsstaat unmittelbar. Dieser Rechtsakt von Europarecht gleicht einem Gesetz bzw. einer Rechtsverordnung. Das heißt, die Regelungen müssen nicht erst in nationales Recht umgewandelt werden. Sie richten sich direkt an die Staaten und die EU-Bürger. Ein berühmtes Beispiel ist die EU-Verordnung 2009/244/EG, die das Ende der Glühbirne, sprich das „Glühbirnenverbot“ besiegelte.
Auch Beschlüsse sind unmittelbar verbindlich. Sie unterscheiden sich von Verordnungen dahingehend, dass sie an einzelne Mitgliedsstaaten adressiert sein können oder sogar an einzelne Personen. Diese Rechtsakte sind daher besonders gut geeignet, um Einzelfälle konkret zu regeln. Sie können aber auch abstrakte, generelle Regelungen beinhalten. Insbesondere im Wettbewerbs- und Kartellrecht spielen Beschlüsse eine wichtige Rolle, weil damit Unternehmensfusionen genehmigt oder verboten werden können.
Richtlinien sind im Europarecht für die Mitgliedsstaaten nur hinsichtlich des darin beschriebenen Ziels verbindlich. Wie, in welcher Form und mit welchen Mitteln die einzelnen Staaten dieses Ziel verwirklichen und in nationales Recht umsetzen, bleibt ihnen überlassen.
Ein aktuelles Beispiel bildet die „Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz“ (EU-Richtlinie 2019/1023). Sie besagt, dass unternehmerisch tätige Menschen in der Insolvenz Zugang zu einem dreijährigen Restschuldbefreiungsverfahren haben müssen. Die Mitgliedsstaaten mussten diese Vorgabe bis zum 17.7.2021 in nationales Recht umsetzen.
Des Weiteren gibt es im Europarecht Stellungnahmen und Empfehlungen. Diese sind jedoch rechtlich unverbindlich. 2015 sorgte eine Stellungnahme der EU-Kommission für reichlich Wirbel in Deutschland. Darin rügte die Kommission eine Vorschrift im deutschen Sozialgesetzbuch. Die entsprechende Regelung schloss Hartz-IV-Leistungen für EU-Zuwanderer aus, was nach Auffassung der Juristen aus Brüssel nicht mit dem Europarecht vereinbar sein.
Kurzer Einblick in die Gesetzgebung der Europäischen Union
Das Recht, Gesetzesentwürfe zu erarbeiten und in ein Gesetzgebungsverfahren einzubringen (Initiativrecht), hat die EU-Kommission allein. Anderen Organen der Europäischen Union steht dieses Recht nicht zu. Allerdings können das Europäische Parlament, der Europäische Rat und der Ministerrat die Kommission zum Handeln auffordern.
Eine Million wahlberechtigter EU-Bürger kann die Kommission in einem Volksbegehren ebenfalls auffordern, sich mit einem bestimmten Thema auseinanderzusetzen.
Im Europarecht gilt ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren. Das heißt, sowohl das Europäische Parlament als auch der Ministerrat müssen einem Gesetzesentwurf zustimmen, damit er als Gesetz verabschiedet werden kann. Beide Organe sind damit seit dem Vertrag von Lissabon gleichberechtigte Gesetzgeber.
Das Europäische Parlament und der Ministerrat werden vom Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem Ausschuss der Regionen beraten. Beide Ausschüsse müssen im Gesetzgebungsverfahren gehört werden. Anschließend geben sie ihre Stellungnahmen ab.
Der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens gestaltet sich im Europarecht wie folgt:
- Erste Lesung: Beratung des Gesetzesvorschlags im Europäischen Parlament
- Übermittlung der Entscheidung und möglicher Änderungsvorschläge an den Ministerrat
- Gesetz ist erlassen bei Zustimmung des Ministerrats oder
- Änderungswünsche des Ministerrats zieht zweite Lesung im Europäischen Parlament nach sich
Können sich Ministerrat und Europäisches Parlament nicht über den Gesetzesentwurf einigen, so tritt der Vermittlungsausschuss zusammen, in dem die Mitglieder der beiden EU-Organe vertreten sind. Sie müssen sich binnen sechs Wochen einigen. Anschließend erfolgt eine dritte Lesung. Gelingt dies nicht, ist das Gesetzgebungsverfahren gescheitert.
Wie stehen Europarecht und nationales Recht zueinander?
Europäisches Recht hat grundsätzlich Anwendungsvorrang gegenüber den nationalrechtlichen Regelungen. Anderenfalls bliebe das Europarecht wirkungslos. Und auch eine einheitliche Geltung in allen Mitgliedsstaaten wäre sonst nicht gewährleistet.
Ganz unproblematisch ist dieser Grundsatz jedoch nicht. Denn die EU ist nun einmal kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Und als solcher hat sie die nationale Identität der Mitgliedsstaaten zu achten. Wesentlicher Ausdruck dieser Identität ist die Verfassung eines Staates mit ihren ganz eigenen Maßstäben.
Weil diese Verfassungsgrundsätze nicht gebrochen werden dürfen, kann es zu Konfliktsituationen zwischen Europarecht und nationalem Recht kommen. Ein solcher Konflikt lässt sich nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs nur im Wege einer Kooperation lösen – durch ein Vorabentscheidungsverfahren nach § 267 AEUV.
Dieses Verfahren soll für ein effektiveres und einheitlicheres Europäisches Unionsrecht sorgen und verhindern, dass die Mitgliedsstaaten europarechtliche Regelungen unterschiedlich auslegen und anwenden. Hierfür können die Richter der nationalen Gerichte dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Gültigkeit und Auslegung des Europarechts vorlegen.
Überblick über die Organe der Europäischen Union
Wir haben beim europarechtlichen Gesetzgebungsverfahren das Zusammenspiel einiger Organe der EU betrachtet. Doch welche Organe gibt es laut Europarecht überhaupt und welche Aufgaben erfüllen sie? Hier finden Sie einen kurzen Überblick:
- Europäisches Parlament: besteht aus gewählten EU-Bürgern und ist mit dem deutschen Bundestag vergleichbar; beschließt gemeinsam mit dem Ministerrat Gesetze
- Europäischer Rat: setzt sich aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten, dem Präsidenten der Kommission und dem Präsidenten des Europäischen Rats zusammen; seine Aufgaben liegen laut Europarecht bei den allgemeinen politischen Zielvorstellungen für die weitere Entwicklung der EU
- Rat der Europäischen Union: auch Ministerrat genannt, weil hier die Minister (Regierungen) der Mitgliedsstaaten zusammenkommen; Gesetzgebungsorgan; wichtige Funktion bei der Festlegung der Politik sowie bei der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Koordinierung der EU-Wirtschaftspolitik
- Europäische Kommission: besteht aus 28 Mitgliedern; gilt als „Hüterin der Verträge“, weil sie Verantwortung trägt für deren Anwendung; erarbeitet Gesetzesentwürfe und wirkt als Exekutiv- und Verwaltungsorgan, Vertreterin und Verteidigerin europäischer Interessen
- Europäischer Gerichtshof (EuGH): Rechtsprechungsorgan im Europarecht – sorgt als höchstes Gericht der EU für eine einheitliche Auslegung und Anwendung der EU-Verträge
Materielles Europarecht – die Grundfreiheiten
1957 ging es „nur“ darum, mittels wirtschaftlicher Kooperation einen neuen Krieg zu verhindern. 1986 gingen die Mitgliedsstaaten noch einen Schritt weiter. Nunmehr war die Schaffung eines EU-Binnenmarktes ihr erklärtes Ziel – und ist es auch heute noch. Was das genau sein soll, erklärt § 26 Abs. 2 AEUV:
„Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“
Um dieses Ziel zu verwirklichen, sieht das Europarecht fünf Grundfreiheiten vor, die ebenfalls im AEUV festgeschrieben sind:
- Freier Warenverkehr: verbietet Handelsbeschränkungen für Waren zwischen den Mitgliedstaaten der EU
- Arbeitnehmerfreizügigkeit: gibt jedem EU-Bürger das Recht auf freie Wahl seines Arbeitsplatzes innerhalb der EU; das beinhaltet u. a. den freien Zugang zu einer Arbeitsstelle und die Gleichbehandlung im Bewerbungsverfahren
- Niederlassungsfreiheit: berechtigt alle natürlichen und juristischen Personen, sich in jedem EU-Mitgliedsstaat niederzulassen und dort selbstständig tätig zu werden – zu den gleichen Bedingungen wie die Inländer des jeweiligen Staates
- Dienstleistungsfreiheit: gibt jedem Unternehmen mit Sitz in der EU das Recht, seine Dienstleistungen überall in der Europäischen Union anzubieten und zu erbringen
- Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit: garantiert den EU-weiten, freien Verkehr und Transfer von Wertpapieren und Geld in unbeschränkter Höhe
Diese Grundfreiheiten sind im Europarecht von elementarer Bedeutung, dürfen weder geändert noch eingeschränkt werden. Sie bilden quasi das Fundament für die Entstehung eines Binnenmarktes. Allerdings ist die Durchsetzung dieser Freiheiten nicht immer ganz einfach, weil viele nationale Regelung diesem Europarecht entgegenstehen. Deshalb müssen die Gesetze der Mitgliedsstaaten immer wieder angepasst werden.